Aus der Eröffnungsrede zu crossed spheres, pro arte Ulmer Kunststiftung, 2018

Wolfgang Mennel

 

Eine normierte Schachtel ist als Massenprodukt eine Trägerschicht für Labelcodes und Postleitzahlen; um eine Normschachtel mit definierter Länge x Höhe x Breite falten und verwenden zu können, müssen Stanzmarken und Faltmarken technisch exakt gesetzt und geplant sein. So ein Gebrauchskarton ist ein tausendfach digitalisierter Container, für Ursula Geggerle-Lingg aber nichts als eine Schachtel, die Anlass und Quelle für Inspiration und Vorstellung ist. Die flache Form wird Oberfläche eines Körpers mit Volumen, Gewicht und einer Farbe, was ihn zu einem einzigartigen Objekt macht, zu einem Körper, der einen getönten Schatten werfen kann, der ein Leben außerhalb der Norm hat. Die Künstlerin löst den Karton aus dem digitalen Zusammenhang seiner Verwendung, sie analogisiert ihn. Sie animiert ihn.
Dies lässt einen grundsätzlichen  Antrieb ihrer Arbeitsweise erkennen: die Lust am Hin- und Her-Verwandeln von Körpern in andere Raumformen, das Interesse an allen Spielarten der Metamorphose.

Das Spannende am Wahrnehmen der Welt ist, dass man sich täuschen kann. In dieser Ausstellung finden Sie reichlich Gelegenheit, an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Da gibt es flache Gegenstände, die geknickt scheinen, während geknickte Formen ganz flach sind. In einem Raum breitet sich auf dem Boden ein U aus: ein liegendes Tor oder ein gedachter und verwirklichter Schatten des Türrahmens. Oder ist es doch nur eine besonders flache Plastik? Das Zweidimensionale ist streng genommen nur eine Sonderform des Dreidimensionalen.

Bei Ursula Geggerle-Lingg ist jede Form – eine Kiste, ein Karton, ein Blatt Papier – ein Raum, auch die scheinbar so flachen geritzten Zeichnungen erweisen sich als Skulptur: ein Malgrund wird dabei mit einer dicken Schicht aus Farbe und Quarzsand eingestrichen, in die eine Zeichnung eingeritzt wird. Das Stehengebliebene ist eine plastische Form, wenn auch nur mit geringem Innenraum. Die Zeichnung, zwar tiefer liegend, scheint doch nach vorne zu springen. Und erzählt von einem anderen Raum, einem psychologischen Raum, mit ein paar Linien angedeutet.
Eine andere Art von Zeichnung ist in den „Abwicklungen“ realisiert: hier wird ein Raumkörper auf einer Unterlage in alle möglichen Richtungen gekippt, gedreht und gewendet. Die Ausgangs- und die Endposition, sowie die Durchgangspositionen werden markiert, so dass am Ende die Lagermöglichkeiten des Körpers als Zeichnung auf dem Papier zurückbleiben, Markierung verwandelt sich in Zeichnung: auch das eine Metamorphose: funktionaler Strich wird freie Linie, Raum wird Flächenspur. Aus einer bestimmten philosophischen Sicht erscheint alles vom Menschen Gemachte als der Versuch, Ordnungen zu etablieren.

Ob das Kreuz ein kirchliches Symbol ist oder ein weltliches oder ein irgendwie kulturelles, mögen die Nachgeborenen entscheiden.. Hier in der Ausstellung sieht man, dass das Kreuz vor allem und viel schöner eine Form ist. Eine Grundform, eine Binnenform, ein serielles Modul, ein Gitterbaustein. Ursula Geggerle-Lingg reagiert mit ihren Formideen auch auf die Räume, in denen sie ihre Kunstwerke platziert. Sie ändert ihre Formensprache nicht, nur um sich dem Raum anzudienen, sie reagiert auf das Angebot, das der Raum ihr macht. Und wenn sie am Boden im Kachelmuster  eine Kreuzform entdeckt, dann entsteht aus dieser Wahrnehmung die Idee einer Installation aus Kreuzen, die aber so eigenständig sind, dass sie auch andernorts bestehen können.
Die große Wandinstallation mit Kreuzformen („apricot flat“) ist eine fein austarierte Kippfigur, in der sich manchmal die wandweißen Quadrate nach vorn drängen, dann wieder die Kette der plastischen Formen dominiert, und die Schatten spielen dazu ihr eigenes Spiel.

Andere  Kreuze, die hier an den Wänden hängen, markieren Schnittpunkte, in denen sich Linien treffen, schneiden, überlagern. Da gibt es ein rotes Objekt neben einem türkisen, beide in engem Bezug zu einer Malerei daneben: In einem engmaschigen Raster überlagern sich dort Linien auf türkisgrünem Hintergrund. Durch die Veränderung des Farbauftrags, durch ein feines Wechselspiel von transparenten und opaken Stellen entsteht ein wahres Farb- und Lichtspektakel. Die Farben ändern sich je nach Standpunkt, man nimmt Farbnuancen und ein Leuchten wahr, beides nicht gemalt, sondern Interferenzen, die an Farbgrenzen entstehen. Das Raster als Inbegriff der Technisierung verwandelt sich hier ins unfassbare freie Gegenteil, in eine Illusion. Die beiden Kreuze und das Bild sind ein Gemeinsames, sie sind auseinander hervorgegangen und spiegeln sich ineinander.
Übrigens ist auch diese Malerei zugleich ein Objekt, eine rechteckige Plastik mit Farbauftrag. Das ist ja für Geggerle-Linggs Arbeiten ganz substantiell: es gibt gar keine Bildträger, keine Fläche in dienender Form, d.h. es gibt kein gemaltes Bild, das auf einer Holzplatte aufgebracht ist, sondern die bemalte Platte ist das Kunstwerk. Immer ist das Kunstwerk als ein Gesamtobjekt gedacht und ausgeführt.
Für mich ein weiterer Glanzpunkt dieser Ausstellung ist der gläserne Einbauschrank, in den die Künstlerin Formteile aus bemaltem Aluminium gelegt hat. Sie erinnern an Bücher, an Mappen, sind unterschiedlich weit zusammengeklappt oder gefaltet, so als hätten sie verschieden dicken Inhalt zu umfangen und zu bewahren. Von dem Inhalt sehen wir nichts. Der Inhalt ist purer Leerraum. Die Hülle ist Negativform des Inhalts,  ebenso eigenständige Form. Dennoch ist man gezwungen, etwas in sie hineinzulegen. Hier ist das Nutzlose oder das Interesselose in höchster Präsenz und Plausibilität ausgeformt.

Ich hatte vorher gesagt, die Arbeitsweise der Künstlerin sei das Verwandeln von Objekten und Formen; damit ist der technische Vorgang beschrieben, die handwerkliche Seite. Ideell geht es aber wohl darum, beweglich zu sein, offen zu bleiben, die Welt nicht als unveränderbar zu sehen sondern als Anlass und Möglichkeit zur Gestaltung. Das Hin- und Her der Formen deutet nicht auf Entscheidungsschwäche, sondern ist ein Zeichen von Durchdringung und Beharren, insofern ist das Analogisieren vielleicht ein zur-Ruhe-kommen, mindestens aber eine Entschleunigung.